Doch wie entsteht chronischer Schmerz? Welche modernen Ansätze gibt es in der Physiotherapie, um Patienten bestmöglich zu helfen? Um diese Fragen zu beantworten, habe ich mit Civan Inserra gesprochen.
Der Physiotherapeut ist Dozent an den Döpfer Schulen Krefeld, mit Spezialisierung auf Sportphysiotherapie und Schmerzwissenschaft und hat viel zum Thema “Schmerz” zu berichten. In diesem Artikel teile ich seine spannenden Einblicke.
Chronischer Schmerz: Altes Denken vs. moderne Wissenschaft
Lange Zeit galt das biomechanische Modell als Grundlage der Schmerztherapie. Dieses Modell basiert auf der Annahme, dass bestimmte Bewegungen oder Haltungen zu strukturellen Schäden und somit zu Schmerzen führen. Dieses mechanistische Denkmodell konzentriert sich auf körperliche Fehlstellungen oder verkürzte Muskeln als Hauptursachen für Schmerzen. Allerdings korreliert dieses Modell nicht direkt mit den Erkenntnissen der modernen Schmerzwissenschaft.
Unser Interviewpartner Civan sieht dieses Modell kritisch
„Das biomechanische Modell ist überholt. Es geht davon aus, dass Schmerzen automatisch durch Fehlhaltungen oder muskuläre Dysbalancen entstehen. Die moderne Schmerzwissenschaft zeigt jedoch, dass Schmerz nicht zwangsläufig mit Gewebeschädigung zusammenhängt.“
In der modernen Schmerzforschung wird Schmerz nicht mehr als direktes Symptom einer Gewebeschädigung, sondern als komplexe Erfahrung betrachtet, die durch biologische, psychologische und soziale Faktoren beeinflusst wird. Laut Civan ist daher die wichtigste Erkenntnis für Patienten, dass Schmerz nicht direkten Schaden bedeutet. Er berichtet, dass viele Patienten noch im alten Denkmodell verhaftet sind, weshalb Schmerzen ein Zeichen für eine Verletzung oder Schädigung des Körpers sind und daher Ruhe und Schonung oberste Priorität haben. Diese Vorstellung führt jedoch oft dazu, dass Betroffene sich weniger bewegen, was langfristig die Beschwerden sogar verstärken kann. Civan verweist auf Studien, die zeigen, dass selbst starke Bandscheibenvorfälle in vielen Fällen überhaupt keine Schmerzen verursachen. Umgekehrt können Menschen unter erheblichen Schmerzen leiden, ohne dass eine klare strukturelle Ursache dafür gefunden wird. Dies bedeutet, dass Schmerz nicht nur eine Frage körperlicher Schädigung ist, sondern ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren, darunter auch das Nervensystem, die Psyche und frühere Schmerzen.
Nach den Erkenntnissen der modernen Schmerzforschung geht es bei der Behandlung chronischer Schmerzen daher nicht mehr primär darum, Bewegungen zu vermeiden oder den Schmerz vollständig auszuschalten, sondern darum, eine Resilienz gegenüber dem Schmerz aufzubauen – sowohl körperlich als auch mental. Durch gezielte Bewegung, Aufklärung und kognitive Strategien können Patienten lernen, besser mit ihren Schmerzen umzugehen und sich nicht durch Angst oder Vermeidungsverhalten weiter in eine Abwärtsspirale zu begeben.
Lebensstil und Schmerz – ein entscheidender Faktor
Manuelle Therapie: Hilfreich, aber nicht die alleinige Lösung?
Die Manuelle Therapie (MT) umfasst Behandlungstechniken, bei denen der Therapeut den Patienten durch Berührung behandelt – beispielsweise durch Massagen, Mobilisierung oder Manipulation. Viele Patienten setzen große Hoffnungen in diese Techniken, doch unsere Experten warnen vor überzogenen Erwartungen: „Manuelle Therapie kann kurzfristig helfen, aber sie birgt auch Risiken. Zum Beispiel kann sie eine Abhängigkeit vom Therapeuten schaffen oder eine passive Bewältigungsstrategie fördern, bei der der Patient denkt: ‚Nur die Behandlung hilft mir, nicht meine eigenen Aktivitäten.‘“ -Civan
Drei große Probleme sieht er dabei:
- Abhängigkeit: Patienten verlassen sich auf den Therapeuten, anstatt selbst aktiv zu werden.
- Passivität: Eine rein passive Therapieform fördert nicht die Selbstwirksamkeit des Patienten.
- Falsche Glaubenssätze: Begriffe wie „Einrenken“ oder „Blockaden lösen“ können Ängste stark und ein falsches Verständnis von Schmerz fördern. Der Begriff „einrenken“ suggeriert, dass Gelenke oder Wirbel „ausgerenkt“ sind und mechanisch wieder „eingesetzt“ werden müssen. Moderne Studien zeigen jedoch, dass dies in den meisten Fällen nicht der Realität entspricht. Die Wirbelsäule ist äußerst stabil und strukturelle „Verrenkungen“ sind selten. Vielmehr handelt es sich häufig um Muskelspannungen, Schutzmechanismen des Körpers oder eine erhöhte Sensibilisierung des Nervensystems.
Daher sollte MT nicht als alleinige Lösung betrachtet werden, sondern immer in Kombination mit Aufklärung, Bewegungstherapie und aktivem Schmerzmanagement.
Schmerzmanagement: Wie man langfristig Erfolge erzielt
Eine effektive Schmerztherapie bedeutet nicht, dass der Schmerz sofort verschwindet – sondern dass sich die Belastbarkeit des Patienten Schritt für Schritt verbessert. Unser Experte erklärt: „Es ist entscheidend, dass Patienten Fortschritte sehen. Selbst wenn der Schmerz nicht sofort weg ist, zeigt eine gesteigerte Belastbarkeit, dass der Körper sich anpasst. Das ist ein enormer Motivationsfaktor.“
Dafür empfiehlt er drei einfache Regeln für eine sichere Belastungssteigerung :
- Während der Übung sollte der Schmerz maximal 4 von 10 auf der Schmerzskala betragen.
- Der Schmerz muss sich innerhalb von 24 Stunden wieder normalisieren.
- Es darf nicht zu starkem Nachtschmerz kommen.
Diese Regeln geben Patienten eine klare Struktur und helfen ihnen, ohne Angst zu trainieren.
Warum Aufklärung eine Schlüsselrolle spielt
Die Schmerzwissenschaft zeigt immer deutlicher, dass Patienten, die gut über ihre Beschwerden informiert sind, besser mit ihren Schmerzen umgehen können und langfristig weniger Einschränkungen erleben. Bildung ist daher kein Nebenaspekt, sondern ein entscheidendes Therapieelement. Ein empfehlenswertes Buch für Therapeuten ist „Explain Pain“ von Butler & Moseley , das aktuelle Erkenntnisse aus der Schmerzwissenschaft verständlich aufbereitet. Es zeigt, wie Schmerz entsteht und warum Bewegung für die Regulation des Nervensystems essentiell ist.
Die Rolle der Therapeuten: Wissen als Therapie
Physiotherapeuten spielen eine zentrale Rolle darin, Patienten nicht nur zu behandeln, sondern sie auch aktiv aufzuklären. Das bedeutet:
- Schmerzen verständlich erklären: Patienten profitieren davon, wenn ihnen vermittelt wird, dass Schmerzen oft durch eine Überempfindlichkeit des Nervensystems entstehen und nicht ausschließlich durch strukturelle Schäden.
- Falsche Glaubenssätze abbauen: Viele Patienten glauben, dass sie sich „schonen“ müssen. Therapeuten sollten hier gezielt eingreifen und ihnen zeigen, dass Bewegung Teil der Lösung ist.
- Selbstwirksamkeit fördern: Patienten sollten ermutigt werden, aktiv an ihrer Genesung mitzuwirken, anstatt sich ausschließlich auf passive Therapien zu verlassen.
- Evidenzbasierte Kommunikation nutzen: Die Wortwahl hat einen enormen Einfluss auf die Wahrnehmung von Schmerz. Anstatt Begriffe wie „Blockaden“ oder „Fehlstellungen“ zu verwenden, sollten Therapeuten Begriffe wählen, die die Anpassungsfähigkeit und Stabilität des Körpers betonen.
Laut Civan steht die Herausforderung für Therapeuten darin, komplexe medizinische Sachverhalte verständlich und positiv zu vermitteln, sodass Patienten Vertrauen in ihren Körper zurückgewinnen und aktiv an ihrer Genesung mitwirken.
Fazit: Ein neues Verständnis für Schmerz
Chronischer Schmerz ist ein komplexes Phänomen, das mehr erfordert als nur Schmerzmittel oder passive Therapien. Die moderne Physiotherapie setzt auf eine ganzheitliche Herangehensweise, die Bewegung, Aufklärung und psychologische Aspekte kombiniert. Unser Experte bringt es auf den Punkt: „Der menschliche Körper ist extrem widerstandsfähig. Wenn Patienten verstehen, dass sie nicht zerbrechlich sind, sondern sich anpassen können, verändert das ihr gesamtes Schmerzempfinden.“ Physiotherapeuten spielen dabei eine entscheidende Rolle – nicht nur als Behandler, sondern auch als Mentoren und Wissensvermittler. Denn am Ende gilt: Bewegung ist nicht der Feind, sondern ein zentraler Teil der Lösung.
Hausbesuch in Österreich und Deutschland
Ja, das waren gute Tipps, die Civan den Therapeuten und unseren Patienten hier mit auf den Weg gibt. Er und die vielen anderen Therapeuten/-innen an unseren zahlreichen Standorten in Österreich und Deutschland kommen zum Hausbesuch: Pro Behandlungseinheit sind jeweils volle 60 Minuten eingeplant, also viel Zeit zum Therapieren und Gesundwerden. Kontaktieren Sie uns gerne für zeitnahe Termine.